D. Pollak: Rückkehr des Religiösen?

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Titel
Rückkehr des Religiösen?.


Autor(en)
Pollack, Detlef
Erschienen
Tübingen 2009: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
367 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alfred Dubach, Engelburg/St. Gallen

Die Säkularisationsthese gehört zum Kernbestand soziologischer Theorieentwürfe und geht in ihren wesentlichen Aussagen bis auf die Klassiker der Soziologie zurück. Angesichts der unübersehbaren bleibenden Relevanz des Religiösen auch unter den Bedingungen der Moderne mehren sich die Stimmen, die der bislang weithin als gültig anerkannten Säkularisierungsthese kritisch entgegentreten und den oft behaupteten Zusammenhang zwischen Modernisierung und Säkularisierung bestreiten. Sie glauben, eindeutige Signale einer Rückkehr des Religiösen in den letzten Jahren beobachten zu können. Dabei stellt sich allerdings die Frage, ob dem unbestreitbaren Aufmerksamkeitsgewinn religiöser Themen in der Öffentlichkeit und der gestiegenen Nachfrage nach Spiritualität ein Relevanzgewinn des Religiösen in der individuellen Lebensführung entspricht.

Nach Pollack spricht die empirische Evidenz nicht für eine Wiederverzauberung durch Religion. Die Prozesse der Modernisierung – so Pollacks Kernaussage zur Säkularisierung – haben einen letztlich negativen Einfluss auf die Stabilität und Vitalität von Religionsgemeinschaften, religiösen Praktiken und Überzeugungen und vermindern die Bedeutung der Religion für die Lebensführung der Menschen. Die Stärke der Säkularisierungstheorie erkennt Pollack darin, dass sie die komplexen Kontextbedingungen, unter denen Religion in der Gegenwart wirkt, ins Blickfeld rückt und eine Vielzahl von religiösen und kirchlichen Veränderungsprozessen besser als andere Theoriemodelle wie z. B. das ökonomische Markmodell oder die Individualisierungsthese zu beschreiben vermag. Religion und Moderne verhalten sich nicht inkompatibel zueinander. Sie stehen zueinander in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis.

Es ist nach Pollack nicht richtig, dass die Säkularisierungstheorie nur Prozesse der Signifikanzabschwächung von Religion zu deuten vermag. Prozesse der Modernisierung können mit Prozessen religiöser Vitalisierung auch Hand in Hand gehen. In Abkehr von einem expansiven Leistungs-, Steigerungs- und Forschrittsdenken wenden sich Bevölkerungsteile vor allem der jüngeren Generation zunehmend den sanften Techniken der Selbstfindung und esoterischer Spiritualität zu.

Im Zeitverlauf ist von einer Zunahme der Akzeptanz von ausserkirchlichen alternativen Formen der Religion auszugehen. Sie markieren einen Gestaltwandel der Religion von institutionalisierter, traditional und sozial abgestützten Vorstellungen und Ritualen hin zu mehr individualisierten, diffusen, erlebnisorientierten, wenig verbindlichen, synkretistischen Ideen und Praktiken. Der Rückgang traditioneller Religiosität, ausgedrückt in Konfessionszugehörigkeit, Kirchgang und Gottesglaube, wird aber nicht durch den Aufschwung ausserkirchlicher Religiosität ausgeglichen. Religion bleibt nicht für das Individuum in gleichem Masse bedeutsam und sie verändert nicht nur ihre Gestalt. Die Positionsverluste der institutionalisierten und traditionellen Sozialformen von Religion, insbesondere des Christentums, können die zweifellos an Bedeutung gewinnenden ausserkirchlichen Religiositätsformen nicht kompensieren. Empirische Studien belegen, dass in der Verschiebung von traditioneller zu nichttraditionellen Inhalten des Religiösen zugleich eine Abnahme in der individuellen Relevanz einhergeht. Sofern man darauf schaut, was die Menschen von sich sagen und was sie glauben, was sie tun und wie sie ihr Denken, Fühlen und Handeln interpretieren, insofern man also die individuelle Ebene in den Blick nimmt, lässt sich nach Pollack ein genereller Bedeutungsaufschwung von Religion nicht feststellen. Der in der Presse immer wieder zu lesende Satz: «Die Kirchen leeren sich, aber Religion boomt» stimmt nicht.

In der vorliegenden Publikation führt Pollack theoretisch und empirisch die religionssoziologische Diskussion um das Säkularisierungstheorem im Buch ‹Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland› (2003) fort. Erneut fragt er danach, was die Säkularisierungsthese besagt und was sie nicht besagt, beschreibt die religiösen Wandlungsprozesse in West- und Osteuropa und erläutert, welchen Religionsbegriff er seinen empirischen Analysen zugrunde legt. Neu fragt er nach alternativen Modellen zur Erklärung religiöser Wandlungsprozesse und beschäftigt sich empirisch mit dem Phänomen ausserkirchlicher alternativer Religiosität. Weitere bedeutsame Aspekte der gegenwärtigen religiösen Lage werden thematisiert in den Überlegungen zum gesellschaftlichen Ort der Kirchen in der westlichen Moderne, zu den Grenzen der religiösen Pluralisierung und in den Analysen der individuellen Bindung an die Kirchen, von Kirchenaustritten und -eintritten, am Beispiel der evangelischen Kirchen in Deutschland. Darüber hinaus behandelt Pollack die Umorientierungsprozesse im deutschen Protestantismus unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wie die religiösen Umbrüche im westdeutschen Protestantismus der 60er und 70er Jahre und den dramatischen Zusammenbruch kirchlicher Bindungen in der früheren DDR. Den Abschluss bilden Studien zum Wandel des evangelischen Abendmahlverständnisses seit der Reformation und zur Entwicklung des Kontingenzbegriffs im Mittelalter und in der Neuzeit. In einem abschliessenden Exkurs präsentiert Pollack Überlegungen zum Begriff und Phänomen der Konversion aus religionssoziologischer Perspektive. Die vorliegende Publikation ist eine Sammlung von mehr oder weniger überarbeiteten, bereits publizierten Aufsätzen des Autors.

Zitierweise:
Alfred Dubach: Rezension zu: Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen?, Tübingen, Mohr Siebeck, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 494-495

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